Immer das olle Gekritzel

Dora Fritsche
Hrsg. Michael Fritsche & Dorothea Thomé
Institut für sprachliche Bildung (isb) Verlag

Alter: Erwachsene/WM/ Lesbarkeit: normal
Textumfang: S-M (96 Seiten)

Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer vermitteln die Postkarten der sächsischen Künstlerin Dora Fritsche (1907 – 1991) einen zeitgeschichtlichen Eindruck deutsch-deutscher Familienkorrespondenz aus fünf Jahrzehnten. Quelle: Institut für sprachliche Bildung (isb) Verlag

Leseempfehlung

von Sabine Kruber

Dora Fritsche wurde 1907 in Düsseldorf geboren. Sie war das jüngste von sechs Kindern, galt als aufsässig, lehnte sich gegen ihre dominante Mutter auf, provozierte durch ihr Äußeres, trank, rauchte und vertrieb sich den Tag mit Karten spielen. In den späteren 20er Jahren nahm sie an anarchistischen Demonstrationen teil. Aber in Dora Fritsche schlummerte auch eine echte Künstlerin. Sie war zeichnerisch und musikalisch sehr begabt. Über die Beziehungen ihrer Mutter erhielt sie ein Stipendium und begann an der Düsseldorfer Kunstakademie zu studieren. Sie hielt sich selbst aber nicht für sehr talentiert, nannte ihre Zeichnungen ein olles Gekritzel und nahm auch ihr Studium nicht sehr ernst. Zeitweise jobbte sie als Fabrikarbeiterin und begann eine Lehre als Zahntechnikerin.
1937 wurde sie technische Zeichnerin bei Rheinmetal. Kurz vor Kriegsende wurde der Betrieb nach Sachsen ausgelagert. Dora Fritsche zog ebenfalls nach Sachsen und lebte von da an, bis an ihr Lebensende in Grimma, während der überwiegende Teil ihrer Familie und Verwandtschaft im Westen lebte.
In die junge DDR legte Dora Fritsche zunächst große Hoffnungen, was jedoch schnell einer Enttäuschung wich. Trotzdem blieb sie.
Bis zu ihrem 72. Lebensjahr arbeitete die Künstlerin in einem Stahlbetrieb und fing erst im höheren Lebensalter wieder an, sich dem Zeichnen verstärkt zu widmen.
Es ist schon schade, dass sie nie die Möglichkeit hatte, ihr künstlerisches Talent zu entfalten, einerseits, weil sie selbst nichts von ihrem Talent hielt – andererseits, weil vielleicht auch die Möglichkeiten dazu fehlten.
Dora Fritsche zeichnete Karikaturen, illustrierte satirische Gedichte und machte mehrere Bilderbücher für ihre Nichte. Alles blieb jedoch immer im privaten Umfeld.

Immer das olle Gekritzel ist ein bebildertes Leseheft. Es zeigt viele handgezeichnete Postkarten mit frechen Texten und Gedichten Dora Fritsches an ihre Verwandtschaft im Westen. Die Karten erstreckten sich über einen Zeitraum von 1951-1991.
Dora Fritsche hatte einen sehr speziellen Humor, der beim Lesen vielleicht zunächst etwas befremdlich wirkt. Aber wenn man sich auf die Karten einlässt, erhält man einen spannenden Einblick in den DDR-Alltag. Es ist eine wirklich interessante Familienkorrespondenz. Inhaltlich drehen sich die Postkarten häufig auch um die Pakete, die Dora Fritsche aus dem Westen erhielt. Leider ist die Korrespondenz einseitig. Die Antworten der Verwandtschaft wären bestimmt nicht weniger interessant.
Die Künstlerin hat sich auf den Postkarten meist selbst gezeichnet. Es sind humorvolle, augenzwinkernde Karikaturen mit dickem Hinterteil, großem Busen und einer dicken Nase.
Überwiegend sind die Karten an ihre Schwägerin adressiert, der sie viele kreative Namen gab. Außerdem schrieb sie an ihren Neffen Michael. Dr. Michael Fritsche ist auch einer der Herausgeber dieses Buchs.
Das Buch ist ein Stück Zeitgeschichte und von daher für alle Leser interessant, die etwas mehr über diese Zeitspanne erfahren wollen oder selbst Erinnerungen an diese Zeit haben.
Da die Texte der Postkarten alle in serifenloser, größerer Schrift neben den Postkarten stehen und auch die Zeilenabstände weiter sind, eignet sich das Buch auch sehr gut für erwachsene fortgeschrittene Erstleser. Die Lesbarkeit liegt bei normal, der Textumfang ist nicht größer als S-M. Der Text selbst ist linksbündig im Flattersatz gesetzt. Die Seiten bestehen aus Hochglanzpapier. Je nachdem wie der Lichteinfall ist, kann das beim Lesen irritieren.
Die Anforderungen an das Lesesinnverständnis sind relativ hoch, da man der Sprache die Zeit anmerkt, in der die Karten geschrieben wurden. Häufig finden sich auch mehrdeutige Anspielungen und es werden oft Niedlichformen (Hildemäuschen, Süppchen) verwendet, was das Lesen eventuell erschwert. Einige Begriffe werden aber am Seitenende erklärt.
Interessant ist das Buch auf alle Fälle auch für Leseklubs und Leserunden. Die Texteinheiten sind relativ klein und man kann anschließend gut darüber diskutieren, was Dora Fritsche wohl mit der ein oder anderen Aussage meinte. Das erweitert nebenher den Wortschatz. Falls das Lesen selbst noch zu schwer fällt, macht es aber auf jeden Fall Spaß, sich die frechen Zeichnungen anzusehen.

Fazit: Immer das olle Gekritzel ist spannend für Leser, die vielleicht ebenfalls von deutsch-deutschen Korrespondenzen und Beziehungen erzählen können, aber auch für jüngere Leute, die ein Stück Zeitgeschichte erleben wollen.

Dieses Buch wurde mir vom Institut für sprachliche Bildung als kostenfreies Prüfexemplar zugesandt.